Der Pionier der Bindungstheorie, Sir John Bowlby, entwickelte Ende der 50er Jahre eine noch heute vielbeachtete Bindungstheorie. Ihr zugrunde liegt das Bedürfnis des Menschen, eine enge und von intensiven Gefühlen geprägte Beziehung zum Mitmenschen aufzubauen.
Gemeinsam mit der kanadischen Psychologin Mary Ainsworth entwickelte er ein Modell der Bindungsformen in der frühen Mutter-Kind-Beziehung. (siehe eigene Publikationen). Heute wissen wir, dass die Bindungsmuster bereits intrauterin in Interaktionen zwischen Mutter und Kind programmiert werden und eine Schlüsselrolle
in der pränatalen Hirnentwicklung spielen. So werden die Persönlichkeit des Neugeborenen und seine Selbststeuerung früh geprägt. (siehe pränatale
Einflüsse)
Durch nonverbale Signale (Mimik, Körperkontakt, Blickverhalten) kommt es zu einer Einstimmung des Kindes unter und nach der Geburt, es entsteht ein Gleichgewicht zwischen Gefühls- und Körperwahrnehmung. Die Neugeborenen erreichen ein Abgleichen mit den vorgeburtlichen Prozessen und integrieren die neuen Erfahrungen.
In dieser sensiblen postpartalen Phase hemmt jedes mütterliche Angst- oder Unsicherheitsgefühl die Kernpunkte des Bindungsprozesses. Entscheidend ist die emotionale und körperliche Verfügbarkeit
der Bindungsperson.
In der Zeit der frühen Kindheit, noch stärker in der Zeit des Wochenbetts, sind Eltern häufig motiviert sich zu ändern, wenn sie über das Berührtwerden verstehen lernen, wie
Bindungen die Entwicklung beeinflussen und wie ihr Verhalten die Fähigkeit ihrer Kinder beeinflusst, eine sichere Bindung zu ihnen aufzubauen. Wir können ihnen nahebringen, die kommunikativen
Fähigkeiten ihrer Neugeborenen zu erkennen. Diese zeigen bereits nach der Geburt ein breites Spektrum an Gefühlen.
Das sichere Modell
Das Baby bringt Vertrauen in die Feinfühligkeit der Bindungsfigur. Es will per se interagieren, sucht visuelle Reize (Gesichter) und Stimmen. Schon in der Schwangerschaft wirkt das Kind
entspannter und gelassener, wenn beide Eltern mit ihm im Zwiegespräch sind. Auch der Vater wird rasch aufgrund seiner Stimme und bald auch nach seinem Bewegungsmuster erkannt.
Zu Beginn braucht das Baby Körperkontakt für das Gefühl der Sicherheit, dank seiner sozialen Kompetenz fühlt es sich sicher, wenn es die Eltern hört, sieht oder später nur in einem
angrenzenden Raum weiss.
Negative Gefühle bei einer Trennung
Ein sicheres Modell gibt im Kindes- und Erwachsenenalter Autonomie. Auch eine tiefgreifende Verarbeitung negativer Kindheitserlebnisse kann zu einer autonomen Bindungseinstellung führen. Sie
haben einen guten Zugang zu den eigenen Gefühlen, Selbstvertrauen, Respekt, Frustrations-toleranz und Empathiefähigkeit. Sie reagieren angemessen und vorhersehbar. Es besteht eine Kongruenz
zwischen (harmonischer) Bewegung und inneren Zuständen.
Das Unsicher-vermeidende Modell
Nicht alle Eltern sind in der Lage, ihren Kindern immer die Erfahrung von Sicherheit und Verbundenheit zu vermitteln, sodass diese eine sichere Bindung aufbauen könnten. Besonders betroffen sind
Eltern, die selbst emotional schlecht genährt aufgewachsen sind und diese Erfahrungen nicht verarbeitet haben. Sie sind in vielen Situationen verschlossen, unsensibel, unzugänglich. Somit wird
für das Kind das Erleben des Nähe-Suchens und somit einer sicheren Basis beeinträchtigt.
Bei einer Trennung
Nach einer Trennung sucht das Kind nicht mehr Nähe und Trost bei der Bindungsperson, da von ihr keine Auflösung zu erwarten ist. Das unsicher-vermeidend gebundene Kind ist angespannt vorsichtig.
Es spricht höflich, aber distanziert zur Bindungsperson. Die Antworten sind kurz, auf das Nötigste beschränkt, eher launisch und unkooperativ, häufig seinen Kopf durchsetzend.
Als Erwachsene wird der Bindungstyp unsicher-distanziert definiert.
Das unsicher-ambivalente Modell
Bei beiden unsicheren Modellen gewöhnen sich Kinder daran, die Beziehung zu ihren Eltern auf ihre Weise zu organisieren. Beim ängstlich ambivalenten Modell ist die Bindungsperson als nicht berechenbar abgebildet. Durch die inkonstante Verfügbarkeit wissen die Kinder nicht, was sie erwarten sollen. Häufig hören sie Drohungen Verlassen zu werden – diese sind in hohem Masse pathogen!
Das Kleinkind sucht aufgrund bisheriger Erfahrungen die Bindungsperson schon vor einer Trennung. So ist Bindungssystem chronisch aktiviert, was das Erkundungsverhalten einschränkt.
Eine Trennung
Das Kleinkind wirkt lange Zeit unreif und anhänglich, weil die Bindungsperson schlecht berechenbar ist und seine Zuversicht in deren Verfügbarkeit und Voraussagbarkeit fehlt.
Die Ambivalenz mit ihrer Unsicherheit wirkt sich auch auf Interaktionen der Kinder mit ihrem weiteren sozialen Umfeld aus.
Erwachsene gelten als unsicher-verstrickte (präokkupierte) Menschen. Sie …
Das unsicher-desorganisierte Modell
Bindungsrelevante Themen der Bindungsfigur (traumatische unverarbeitete Ereignisse) halten das eigene Bindungssystem aktiviert. Sie sind beängstigend, verwirrend, beunruhigend, chaotisch. So
steht ihnen ihre Möglichkeit der Pflege, vor allem ihre Funktion als feinfühlige Bindungsperson nur eingeschränkt zur Verfügung. Die Babys beginnen häufig zu weinen und entwickeln kaum einen
Schlafrhythmus – oder sie verhalten sich still und ruhig. Sie haben bereits intrauterin die Unberechenbarkeit wahrgenommen (siehe pränataler Bereich,
Nabelschnuraffekt).
Als Kleinkinder sind sie längere Zeit nicht in der Lage, eine klare Bindungsstrategie zu entwickeln. Im Laufe der Zeit entwickeln sie eine kontrollierende Strategie, die in vielen Fällen an eine
Rollenumkehr erinnert. Sie fühlen sich entweder für das Wohlergehen der Bindungsfigur verantwortlich und werden fürsorglich – oder sie versuchen nach einer Trennung die Kontrolle durch
bestrafendes Verhalten zu behalten (Beschimpfungen oder Tätlichkeiten). Die Kindheitserinnerungen sind immer auch einem der obigen Arbeitsmodelle zuzuordnen.
Die Desorganisation des Erwachsenen zegit sich in verbalen oder gedanklichen Inkohärenzen und Irrationalitäten bei ganz bestimmten Bindungsthemen wie Tod, Trennungen oder Beschreibung eines
erlebten Missbrauchs. Bei Missbrauch ist es unmöglich, dass Eltern ihren Kindern ein Gefühl der Sicherheit vermitteln. Die geschädigte neurale Integration kann dazu führen, dass ihnen die
Selbstregulation, die soziale Kommunikation und logisches Denken schwer fallen. Häufig neigen sie zu Gewalt und weisen eine Tendenz zur Dissoziation auf.
Lösungen auch nach traumatischen Erlebnissen oder Verlusten sind möglich. Für die Selbstreflexion ist es hilfreich, einen Erwachsenen zu finden, dem man vertraut und der zuhören kann.
Kinder sind Spiegel, die zeigen, was wir gerne verbergen.
Kinder sind Seelen, die spüren, wofür wir schon längst stumpf sind.