Pränatale Prägung und ADHS – Bindung und Verhalten im präverbalen Raum
Seit bald drei Jahrzehnten beschäftige ich mich in meinem Praxisalltag mit verhaltensoriginellen Kindern und deren Eltern. Als Vater eines Adoptivkindes mit diversen Wahrnehmungsproblemen wurde
mir das Leiden aus der Sicht des Kindes bewusst. Schmerzlich war das Gefühl der Hilflosigkeit als Vater, das dauernde Korrigieren von speziellen Verhaltensmustern. Wichtig wurde für mich als
Pädiater die Arbeit mit den Eltern. Schule-Elternhaus-Kinderarzt und ein immenses Netz an therapeutischen Einrichtungen ergänzen sich im optimalen Fall, ansonsten dreht sich alles im Kreis.
Ich versuchte, die Ursachen der Fehl-Entwicklungen zu hinterfragen. Meinen Fokus richtete ich speziell auf das Zusammenspiel von psychosozialer Bindung und Gehirn-Entwicklung.
Psychologisches Wissen
In den letzten zwei Jahrzehnten sind zahlreiche Veröffentlichungen entstanden, die auf die Bedeutung der pränatalen Zeit hinweisen. Dies sind Beobachtungen der normalen Entwicklung sowie der
Auswirkungen von Stressoren während der Schwangerschaft.
Babys und Kleinkinder bringen in der psychotherapeutischen Situation ihre Erinnerungen von frühen schmerzlichen Erfahrungen zum Ausdruck. Die Einsicht, dass die Qualität der Bindung intrauterin
eine Schlüsselrolle in der pränatalen Gehirnentwicklung spielt, bot mir Erklärungsansätze für die Affektregulation, die geistigen Fähigkeiten und die Handlungsweisen der „verhaltens-originellen“
Kinder und Jugendlichen in meinem Praxis-Alltag.
Geschichte der Pränatalen Psychologie
Lester Sontag berichtete in den 40er Jahren, dass der Herzschlag der Mutter das Kind im Mutterleib beeinflusse. Das Säuglingsschreien wurde mit „Rockabye Teddybears“ um 40-50% reduziert. Um 1980
erst konnten Psychotherapeuten wie Stanislav Grof (unter Verwendung von LSD), Frank Lake oder Artur Janov die Folgen vorgeburtlicher Traumatisierungen spezifizieren, respektive den Geburtsprozess
in den existentiellen Verarbeitungen beschreiben. Leider scheiterten sie vielfach am naturwissenschaftlich-patriarchalen Zeitgeist.
Der Gynäkologe Frédérick Leboyer setzte sich seit den sechziger Jahren für eine sanfte Geburt ein. William Emerson ist einer der wichtigsten Forscher auf dem Gebiet der prä- und perinatalen
Psychotherapie. Ebenso seine Schüler Karlton Terry und Matthew Appleton. Thomas Harms aus Bremen bietet uns mit seinem Konzept die Möglichkeit, die Emotionelle Erste Hilfe zur Krisenintervention
und Eltern-Baby-Therapie auch im (Praxis-)Alltag anzuwenden.
Pränatale Prägung
In dem „ökologischen System“ (nach Fedor-Freybergh) zwischen den Eltern und ihrem ungeborenen Kind, erlebt dieses Glück und Unglück, Angst und Stress, Trauer, Ärger und Wut. All dies teilen
Eltern ihrem ungeborenen Kind über den Herzschlag, Hormone und Spiegelneuronen mit. Die Plazenta und die Nabelschnur sind das erste Beziehungs- und Bindungsobjekt des Menschen. Das Kind und der
Erwachsene erinnern sich auf der Gefühlsebene an diese erste Bindung und die Trennung durch die Geburt. Es sind Engramme im Unterbewussten, eingetragen in unserem Körpergedächtnis, ja
in jeder unserer Zellen.
2001 wurde die Entschlüsselung des menschlichen Genoms vollendet und es stellte sich heraus, dass die DNS-Sequenz, also der „Text“ der ca. 35000 menschlichen Gene, bei allen Menschen
untereinander zu 99,9% identisch ist. Die Frage ist, in welchem Ausmass Gene aktiviert oder deaktiviert werden. Der Aspekt der Genregulation ist grösstenteils nicht genetisch vererbbar.
Epigenetische Faktoren spielen für den Ausdruck der Gene eine wichtige Rolle. Das Geheimnis der Gesundheit liegt, was die grosse Mehrheit der Krankheiten betrifft, nicht im Text der Gene, sondern
in der Regulation ihrer Aktivität.
Herz und Bindung
Wenige Tage nach der Empfängnis bildet sich im Embryo ein winziges Klümpchen pulsierender Zellen, die Anfänge des Herzens. Diese brauchen als Stimulus den Herzschlag der Mutter. Das Herz
kommuniziert auf verschiedene Wege mit dem Gehirn und dem Körper.
Die Neuralentwicklung wird durch den Herzschlag der Mutter, ihre Atmung und Bewegung ermöglicht. Mit jedem Herzschlag werden zahlreiche Nervensignale an das Gehirn geleitet. Das Herz ist als
pulsierendes Organsystem das bioenergetische und emotionale Zentrum des Bindungsgeschehens. Es bezieht Informationen aus Hormonen, der Herzfrequenz und dem Blutdruck, verwandelt diese in
Nervenimpulse und leitet sie über den N. Vagus und die Nervenbahnen des Rückenmarks an das Gehirn. Durch Verbindung von Herz und Gehirn werden unsere Instinkte, Gefühle und Gedanken
harmonisch zusammengefügt.
Wir werden emotional berührt, wenn wir Nähe und Verbundenheit mit unserem Baby erleben. Andererseits schmerzt es, wenn frühe Verletzungen und anhaltender Stress das emotionale Band zwischen
Eltern und ihrem Säugling belasten.
Pränatale Programmierung des Gehirns
Unser Gehirn wird durch die Entwicklung zellulärer Interaktionen geformt: Die Zellteilung der Neuronen, ihre Migration, ihre dendritische Verzweigung und ihre Synaptogenese. Positive Stimmungen
haben eine Aktivierung der Gene von Nerven-Wachstumsfaktoren zur Folge – und umgekehrt. Das Gehirn funktioniert und entwickelt sich sequentiell, von unten nach oben („bottom-up“). Pränatale
Erfahrungen beeinflussen auf direktem Weg eher die unteren Regionen, haben aber Auswirkungen auf die Synapsenbildung in den höheren präfrontalen Regionen. Extrem leidvolle Ereignisse wie
gewalttätige Zeugung, Abtreibungsdrohung, Zwillingsverlust und Nah-Toderfahrungen werden im Hirnstamm gespeichert und behindern eine gesunde Entwicklung der Mittelhirnregion.
Bei der Feststellung der Schwangerschaft ist der Embryo in voller Wahrnehmung, sozial, kommunikativ und bewusst. Er macht Erfahrungen, die später erinnert werden über das Körpergedächtnis. Das
Ungeborene strebt nach einer sicheren Bindung und will gesehen werden.
Pränatale Bindungsprogrammierung
Das Bindungsverhalten des Kindes ist ein Spiegel der emotionalen Verfügbarkeit der Eltern und deren Umfeld. Die Gefühle der Eltern werden vom Kind „verstanden“ und beeinflussen sein Lebensgefühl.
Über den bidirektionalen Blutfluss durch Plazenta und Nabelschnur werden physische Wahrnehmungen vermittelt, welche Auswirkungen auf psychische Zustände bilden. Diesen Austausch von positiven und
negativen Gefühlen bezeichnet der Körper-Psychotherapeut Frank Lake als „Nabelschnuraffekt“, funktionierend etwa ab der fünften Schwangerschaftswoche.
Sichere Bindung heisst stabile und vorhersagbare Eltern im Erziehungsstil. Wärme, Geborgenheit, Unterstützung und eine adäquate Stressregulierung.
Unsichere Ambivalenz erzeugt ein verzweifeltes Gefühl von Nicht-Beachtung. Positive Erfahrungen sind nicht gesichert. Der Affektfluss ist noch gut genug um einen Vertrauensverlust zu
verhindern.
In unsicher-vermeidender Beziehung entstehen Verzweiflung, Unruhe, Angst, Wut. Diese Eltern sind unerreichbar, invasiv, kontrollierend, erstickend, distanziert. Der Schmerz muss durch Abspaltung
unterdrückt werden.
Die Entstehung der ersten synaptischen Verbindungen im Mittelhirn und frontalen Kortex wird durch die Qualität des Nabelschnuraffekts präformiert. Es erklären sich dadurch spätere
Verhaltensweisen, unsere mentalen, exekutiven Funktionen: Impulskontrolle, emotionale Regulation und Selbststeuerung.
Das Kontrollsystem für Bindungsverhalten ist im orbitofrontalen Kortex der rechten Hemisphäre lokalisiert. In dieser Region werden kognitive und emotionale Prozesse integriert und
koordiniert. So finden wir bei Kleinkindern mit unsicherem Bindungsmuster eine Störung der Balance zwischen Nähe und Distanz.
Intrauterine emotionale Vernachlässigung hinterlässt Kinder mit einer reduzierten Synapsierung des orbitofrontalen Kortex und führt zu einer Verringerung emotionaler Lerngelegenheiten und
Erfahrungen.
Stressreaktionen
Jegliche Unsicherheiten und Ängste der Eltern bewirken eine chronisch rezidivierende Stimulation und somit eine Hypertrophie der fetalen Stress-Achse. Als Folge des hypertrophen Stress-Gens
entsteht eine verminderte Reizschwelle, was wir von den schreienden Neugeborenen gut kennen. Stress führt zur Aktivierung des CRH-Gens mit Produktion von Kortisol und beeinflusst über Signale an
den Hirnstamm die Kontrolle von Pulsfrequenz und Blutdruck. Kortisol blockiert ebenso Gene in den Zellen des Immunsystems: Interleukine und den sog. Tumor-Nekrose-Faktor. Es resultiert eine
erhöhte Anfälligkeit für bestimmte Erreger (Herpes simplex, Rhinoviren, RSV, Reaktivierung von EBV). Ausserdem beschäftigt uns im Praxisalltag die verzögerte Wundheilung in Form von
rezidivierenden Atemwegsinfekten und Hautaffektionen. Das Ausmass der individuellen CRH-Antwort auf Stress scheint (Forschungen Clemens Kirschbaum) nicht vererbt zu sein, was die Bedeutung der
individuellen Prägung durch Vorerfahrungen unterstreicht (Zwillingsforschung).
Angst, Unruhe, mangelnde Synaptogenese durch fehlende Bindung
Emotional deprivierte Kinder haben Probleme in der präfrontalen Vernetzung, dem HPA-System und dem orbitofrontalen Kortex. Die Netzwerke des Gehirns werden durch Erfahrung geformt. Dieser Prozess
der Synaptogenese und Apoptose ist zum Zeitpunkt der Geburt für die älteren Bereiche des Gehirns beendet, einschliesslich des Gehirnstamms, des Thalamus und des Hypothalamus. In jüngeren
Gehirnregionen, wie in jüngeren Teilen des limbischen Systems und des Kortex, dauert dieser Vorgang bis weit nach der Geburt an, bis in die Adoleszenz und das junge Erwachsenenalter
hinein.
Frühe Erfahrungen mit den Bindungspersonen haben eine entscheidende Rolle in der Entwicklung des emotionalen Verhaltens. Aber die grundlegenden neuronalen Muster, die wahren Schaltkreise des
Selbst, werden bis zum dritten Lebensjahr geschmiedet (Abschluss der Myelinisierung des Hippocampus).
Es ist aus Studien erwiesen:
Alltag in der Praxis
Beim Erstkontakt in der Praxis lohnt es sich, die genaue Anamnese ab Kinderwunsch, Schwangerschaft und Geburt aufzunehmen. Die Eltern sind häufig belastet durch die fehlende Anerkennung ihrer
Ängste und Nöte. Wir erfahren die familiäre Herkunft nur über ein entsprechendes Interesse. Die Erfahrung, ihrem weinenden Baby in den ersten Tagen und Wochen nicht zur Seite stehen zu können,
erzeugt bei den Eltern Hilflosigkeit, Ohnmacht, Verzweiflung und Schlafmanko. Zum Teil auch Wut und Hassreaktionen. Wir reagieren vielleicht mit beruhigenden Ratschlägen oder behandeln die
Regulationsstörungen der Kinder, finden aber kaum Anerkennung für die elterliche Not.
Bei unseren späteren Abklärungen stellen wir eine ADHS mit folgenden Symptomen fest: Mangelhafte oder unreife Selbststeuerung (Frontalhirn), Vigilanzproblem (Formatio reticularis),
Motorische Koordinationsstörungen (Kortex und Hirnstamm), Erniedrigte Reizschwelle und verminderte Kanalkapazität (limbisches System), verminderte Abstraktionsfähigkeit (Kortex) oder
frühkindliche Deprivation und taktil-kinästhetische Wahrnehmungsstörungen.
Ausblick
In der Anamnese bei ADHS-Kindern sind aus meiner Erfahrung praktisch immer systemrelevante Ursachen wegweisend. Frühkindliche Belastungen manifestieren sich noch Jahrzehnte später im Körper.
Durch das Thematisieren der kritischen Zeiten während Schwangerschaft und Geburt können Themen offengelegt werden, deren Bewusstheit zur Anerkennung und Entlastung führen. Das Ziel ist es, die
Eltern in der Selbstbestimmung zu lassen. In einem Entspannungsprozess können unverarbeitete Gefühle auftauchen, die belastend sind und auch professionelle Hilfe notwendig werden lassen.
Abwehrsysteme der Eltern dürfen zwar berührt, aber nicht überschritten werden.
Es geht auf alle Fälle nicht um eine Schuldzuweisung. Das Ziel der Gespräche ist eine spürbare Entspannung. Die Eltern sollen ein Instrument in die Hand bekommen, mit dem sie selbst bestimmen
können was möglich ist. Ihr Begleiten und Unterstützen, auch Erarbeiten von Ressourcen, bringen Entlastung im Familien-Alltag. Das Kind nimmt diese positive Veränderung wahr, Entspannung wirkt
ansteckend und es entsteht eine Nachreifung neuronaler Netze. Das Gehirn bleibt lebenslang plastisch, wir bewirken durch die Änderung des Verhaltens sogar eine Änderung des Genoms.
Literatur:
Der Artikel ist in Kinderärzte.Schweiz 01/2016 erschienen, www.praxispaediatrie.ch.
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